Vom Schwein zum Kulturgut
Die Metzgete ist nicht nur ein Überbleibsel bäuerlicher Tradition, sondern auch ein kulinarischer Jahreshöhepunkt

In der Metzgerei Stocker in Obfelden gehört die Metzgete fest zum Jahresablauf. «Wir verkaufen Blut- und Leberwürste sowie klassische Beilagen wie Sauerkraut, Rotkraut oder Rösti», sagt Urs Stocker. Zweimal pro Saison bietet der Betrieb Metzgete-Spezialitäten an – von November bis kurz vor Weihnachten und erneut zwischen Januar und den Sportferien. «In dieser Zeit verkaufen wir rund 300 Kilogramm Blutwürste und 150 Kilogramm Leberwürste.»
Brauch mit praktischen Wurzeln
Wann die erste Metzgete stattfand, ist nicht überliefert. Sicher ist, dass sie aus einer Zeit stammt, in der Schweine als wichtige Nutztiere galten und auf Höfen und sogar in Städten gehalten wurden. Man fütterte sie mit Küchenabfällen, oder die Schweinehirten trieben sie in den Wald zum Fressen. Die Tiere wurden geschlachtet, wenn der Winter bevorstand und das Futter knapp wurde. Nur wenige Familien konnten es sich leisten, die Schweine über die kalten Monate zu versorgen.
Die Metzgete – vom alemannischen «Metzgen», also Schlachten – bezeichnete den Moment der vollständigen Verwertung des frisch geschlachteten Schweins. Alles, was rasch verderblich war, kam sofort in den Kessel: Kopf, Zunge, Schwanz und Innereien wurden zu Kesselfleisch oder zur Basis für Leber- und Blutwürste. Das Blut verarbeitete man direkt. Bauch, Brust und Rippli wurden eingesalzen oder geräuchert. So sicherte man den Wintervorrat, und das Schlachten entwickelte sich gleichzeitig zu einem gesellschaftlichen Anlass.
Mit der Industrialisierung der Fleischproduktion und den strengeren Lebensmittelgesetzen verschwanden private Hausschlachtungen weitgehend. Ab den 1940er-Jahren wanderte die Metzgete in Beizen und Landgasthöfe ab. Herbst und Winter blieben die typische Saison – sowohl aus Tradition als auch wegen der verbesserten Haltbarkeit des Fleisches bei kühleren Temperaturen.
Handwerk, das bleibt
Für die Metzgete spielt die Herkunft des Fleisches eine wichtige Rolle. «Unsere Schweine stammen von Bauern aus der Region», sagt Stocker. «Geschlachtet werden sie von einem Metzger im Freiamt.» Trotz moderner Produktionsabläufe erfordern die Würste nach wie vor präzises Handwerk. «Für die Blutwurst wird das Blut direkt nach dem Schlachten verarbeitet, später mit Milch, Rahm und Gewürzen vermischt und in Rindsdärme gefüllt», erklärt Stocker. Früher wurden dafür gekräuselte Schweinedärme verwendet. Leberwürste macht man aus gekochten Teilen wie Leber, Bauch oder Schwarte, die fein zerkleinert, gewürzt und erneut gegart werden. Beide Sorten sind Kochwürste und dürfen zu Hause nur sanft erhitzt werden. «Das Wasser aufkochen, die Hitze reduzieren und die Würste zugedeckt eine halbe bis drei viertel Stunden ziehen lassen», rät Stocker. «So bleiben Geschmack und Konsistenz erhalten.» Die Rezeptur unterscheidet sich regional: Während in Teilen der Kantone Zürich, Aargau, Luzern und Solothurn etwa Rosinen als typische Zutat gelten, ist dies im Säuli- und Freiamt kaum der Fall. Trotz des wachsenden Interesses an vegetarischer und veganer Ernährung bleibt die Metzgete ein fleischbetonter Anlass. Gleichwohl tauchen Vegetarierinnen und Veganer gelegentlich in den Beizen und Gasthöfen auf. «Ein bis zwei pro Anlass», bestätigt ein Gastronom aus der Region. «Während der Metzgete gibt es zwar kein alternatives Menü, das übrige Jahresangebot ist aber vielfältig und schliesst fleischlose Gerichte ein», sagt er.
Zwischen Nostalgie und Nachhaltigkeit
Der Pro-Kopf-Verbrauch von Schweinefleisch bleibt in der Schweiz praktisch unverändert. Laut dem Fleischverband Proviande lag der Konsum im vergangenen Jahr bei rund 19 Kilogramm pro Person. Schweinefleisch ist damit nach wie vor die beliebteste Fleischsorte der Schweizerinnen und Schweizer.
Da die Metzgete mit der vollständigen Verwertung des Tiers dem heute oft zitierten «Nose-to-Tail-Prinzip» folgt, kann sie als Beispiel für einen bewussteren Fleischkonsum gelten. Ihre saisonale Verankerung und der starke regionale Bezug machen sie für viele zu einem nachhaltigen Gegenmodell zur anonymisierten Massenproduktion.
«Die Leute schätzen die Metzgete als eine verbindende Tradition in einer schnelllebigen Zeit», sagt Stocker. «Unsere Kundschaft freut sich darauf wie auf die Grillsaison. Manche fragen bereits im August nach Blut- und Leberwürsten.» Heimatgefühl und Verlässlichkeit scheinen für viele wichtiger zu werden als ständig neue Trends. Das ehemalige Schlachtfest hat sich zu einem kulinarischen Kulturgut entwickelt, das im Herbst und Winter Liebhaberinnen und Liebhaber aus der ganzen Region anzieht.
Vom Herbstbrauch zur Esskultur
Die Metzgete ist nicht nur regional verbreitet, sondern in grossen Teilen der Deutschschweiz ein fester Bestandteil der Esskultur. In ländlichen Gebieten des Zürcher Oberlandes, im Luzerner Hinterland oder im Thurgau gehören Gasthöfe mit Metzgete-Tradition seit Jahrzehnten zum Landschaftsbild. Während im Osten der Schweiz Blut- und Leberwürste nach eigenen Rezepturen serviert werden, stehen im Berner Mittelland eher gesottenes Fleisch und Speck auf der Karte. Gemeinsam bleiben der enge Bezug zum bäuerlichen Jahresverlauf und die Idee, das ganze Tier zu verwerten. Damit reiht sich die Metzgete neben Anlässen wie der Alpabfahrt oder der Älplerchilbi in die Schweizer Esskultur ein, die aus dem bäuerlichen Alltag stammt und heute als kulinarisches Kulturerbe weiterlebt.


