«Wenn ich höre, dass der aktuelle Stadtrat nicht sparen will, irritiert mich das»
Alt Stadtrat Clemens Grötsch (69) engagiert sich seit seiner Abwahl im Jahr 2022 in der Parteipolitik – was treibt ihn an?

«Anzeiger»: Sie waren am Sonntag an der Feier des «Nein-Komitees» zur 38-Stunden-Woche. Was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass die Stimmberechtigten die Vorlage deutlich abgelehnt haben?
Clemens Grötsch: Überrascht war ich nicht. Ich habe ausserhalb des Stadtrats niemanden angetroffen, der für die 38-Stunden-Woche war. In der Migros haben mich wildfremde Leute auf die Vorlage angesprochen und ihre Abneigung bekundet. Alles unter zwei Drittel Nein-Stimmen hätte mich verwundert.
Es war das erste Mal seit Ihrer Abwahl im Frühjahr 2022, dass Sie das Affoltemer Stimmvolk wieder so deutlich auf Ihrer Seite hatten.
Das war ja nicht nur ich. Mit dem Arbeitgeberverband und dem Gewerbeverein hatten wir starke Partner.
Die Mitte Partei war aber schon eine der treibenden Kräfte. Sie hat zum Beispiel mehrere Einzelinitiativen eingereicht.
Natürlich, ja.
Als Stadtpräsident verfolgten Sie eine konsequente Sparpolitik. Nach Ihrer Abwahl sagten Sie, das Nein zum Spital sei letztlich an Ihnen allein hängen geblieben, obwohl es sich um den Entscheid des Stadtrats gehandelt habe. Fühlten Sie sich damals als Sündenbock?
Als Sündenbock habe ich mich nicht gefühlt. Dass ich im Spital bis 2018 eine Doppelfunktion hatte, war vielleicht unglücklich. (Clemens Grötsch war Stadtpräsident und ab 2016 zusätzlich Präsident der Betriebskommission des Spitals, Anm. d. Red.) Aber dass solche Entscheidungen letztlich am Präsidenten oder an der Präsidentin hängen bleiben, ist klar. Verantwortung ist nicht teilbar.
Sie mussten gehen. Andere Stadtratsmitglieder, die den Entscheid mitgetroffen hatten, sind weiterhin im Amt. Haben Sie noch alte Rechnungen offen?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe mit der Abwahl meinen Frieden geschlossen.
Im Juni 2022 wurde bekannt, dass Sie für die Mitte Partei für den Kantonsrat kandidieren. Was gab Ihnen damals neue Zuversicht, dass Ihr politisches Engagement weiterhin gefragt sein könnte?
Erstens bin ich von Haus aus Optimist und zweitens habe ich mir das Parteiprogramm angeschaut und fand, das passt. Bei mir kommt zwar die Eigenverantwortung noch vor der Solidarität, andere in der Partei sehen das umgekehrt, da gibt es sicher Nuancen. Aber die Mitte Partei war eine spannende Option. Auch deshalb, weil der Bezirk Affoltern im Kantonsrat einen weiteren Sitz erhielt und die Mitte noch nicht vertreten war. Wir haben gut Stimmen gemacht, aber klar: Mit einem Wähleranteil von fast 28 Prozent hat sich die SVP den Sitz geholt.
Sie waren jahrelang als Parteiloser unterwegs. Wieso kam Ihr Parteibeitritt nach der Abwahl?
Wer hätte denn noch auf Clemens Grötsch gehört? Ich sagte mir: Jetzt brauchst du irgendwo eine Heimat, wo du deine Botschaft mit anderen absprechen und transportieren kannst.
In der Politik sind solche Wortmeldungen von Ehemaligen nicht nur gern gesehen. «Servir et disparaître», «dienen und verschwinden», lautet das Credo.
Ich will aber nicht verschwinden! Ich kam 1982, nach dem Studium, in die Schweiz. Seit 1989 lebe ich in Affoltern, 1996 wurde ich Schweizer Staatsbürger. Seither habe ich mich fast durchgehend für die Öffentlichkeit engagiert. 18 Jahre politisch, sechs weitere für den Männerchor. Ich war also immer aktiv und ich möchte mich als Staatsbürger weiterhin einbringen können.
Können Sie nicht loslassen?
Loslassen (überlegt einen Moment) … Ich habe vieles losgelassen.
Sehen Sie Ihr politisches Erbe in Gefahr?
Dazu möchte ich etwas sagen: Immer wieder höre ich, ich hätte gespart. Auch Sie haben das vorhin erwähnt. Dabei muss man zwei Dinge auseinanderhalten. Wir haben investiert und um diese Investitionen aus eigener Kraft zu stemmen, brauchten wir Überschüsse. Auch ich habe nie gespart, nur damit gespart war.
Sie als Sparer zu bezeichnen, ist also falsch?
Ich habe immer gesagt: Wir brauchen einen vernünftigen Jahreshaushalt, um die Zukunft zu gestalten. Sparen heisst: Da sitzt einer auf dem Geld und gibt nichts ab. Aber nein, ich habe es investiert.
Ärgert es Sie, dass die Finanzziele, für die Sie bereit waren, viel Kritik einzustecken, nun weniger Priorität geniessen?
Ja. Wenn ich höre, dass der aktuelle Stadtrat nicht sparen will, irritiert mich das. Als Verantwortlicher für die Stadt sollte man immer darum bemüht sein, das Geld richtig auszugeben.
Ihre Abwahl 2022 war allerdings auch als Votum für eine Kursänderung zu verstehen. Vielleicht hatten die Stimmberechtigten schlicht genug vom ewigen Masshalten.
Ich glaube eher, sie hatten genug von Clemens Grötsch. Hinzu kam, dass es Absprachen hinter meinem Rücken gab. In der aktuellen Legislatur mögen diese Kräfte nun wirken, aber jede physikalische Kraft erzeugt eine Gegenkraft, das ist klar. Diese strategische Zusammenarbeit zwischen den Parteien wird auf längere Sicht nicht funktionieren.
Was läuft in der Politik des aktuellen Stadtrats aus Ihrer Sicht schief?
Oh, also ich bin ja nicht dabei. Vielleicht läuft sogar vieles richtig, aber…
… Wenn Sie nicht das Gefühl hätten, das etwas schief läuft, hätten Sie sich nicht im Nein-Komitee engagiert.
Die 38-Stunden-Woche war auf jeden Fall falsch. Gegen jegliche Vernunft, jegliche Empfehlungen. Wir haben verschiedentlich das Gespräch mit dem Stadtrat gesucht, Leserbriefe geschrieben, zum Rückzug aufgefordert. Eine gewisse Fluktuation ist in einem Betrieb normal, eine 38-Stunden-Woche löst dieses Problem nicht. Die Vorlage wirkte einfach aus der Hüfte geschossen. Es hätte ja mal einer den Finger heben und fragen können: Wer hat denn schon Erfahrungen mit einer 38-Stunden-Woche? Wird das wissenschaftlich begleitet? Es gibt X Studien und Leute, die sich mit Arbeitszeitmodellen oder Personalentwicklung beschäftigt haben.
Im Stadtrat denken also zu viele zu ähnlich?
Ja. Ich wünsche mir, dass die Bevölkerungsschichten proportional vertreten sind; dass nicht fünf Leute dieselbe Meinung haben. Wenn zu viele dasselbe denken, ist man vielleicht auch gehindert, Themen tiefer zu beleuchten.
Diese Gefahr besteht bei einer bürgerlichen Mehrheit genauso.
Wir haben früher durchaus kontrovers diskutiert. Im Stadtrat sollte der Sachverstand Vorrang haben und nicht die Parteipolitik. Vielleicht würde es helfen, wenn unterschiedliche Kräfte im Stadtrat wären, die unterschiedliche Lebenserfahrung haben und unterschiedliches Wissen für eine vertieftere Diskussion einbringen.
Im Nein-Komitee werden Stimmen laut, die nun versuchen wollen, die Mehrheit im Stadtrat und insbesondere auch das Präsidium wieder in bürgerliche Hände zu bringen. Ist das der richtige Weg?
Unbedingt. Die Stadtpräsidentin hat 30 Prozent jener, die sie damals gewählt haben, nicht mehr hinter sich.
Ist es nicht gar pauschal gedacht, das Resultat zur 38-Stunden-Woche als generelles Misstrauensvotum zu deuten?
Das Ergebnis der Abstimmung war dramatisch und ich glaube, viele dieser Nein-Stimmenden werden in den nächsten zwei Jahren genauer hinschauen. Der Stadtrat hat einen schwierigeren Weg vor als hinter sich.
2026 kommt die Chance, den Kurs zu korrigieren. Dazu wäre ein wählbares Ticket nötig. Wo kriegen Sie nun Kandidierende her?
Jetzt müssen wir uns erst mal einig werden, ob und wie es weitergeht. Und dann ist mein Vorschlag, getrennt zu marschieren. Jeder sucht in seinem Umfeld Personen, die passen könnten.
Die Basis ist allerdings eher dünn. Die Mitte Partei Affoltern hat fünf Mitglieder.
Wir haben Sympathisanten, das schon. Aber die möchten sich nicht engagieren. Gut wäre es, mit Jüngeren ins Gespräch zu kommen, die in ihrer Umgebung mitarbeiten und mitgestalten wollen. Davon haben wir viel zu wenige.
Erwägen Sie, selbst nochmals zu kandidieren?
Nein, das ist ausgeschlossen. Wie sagte doch Heraklit: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss springen. Das Amt ist so anspruchsvoll. Bis man da wieder eingearbeitet wäre… Und ich bin schon bald 70, also bitte.
Für den Kantonsrat haben Sie vergangenes Jahr auch kandidiert.
Das stimmt. Trotzdem… Ich bin kein Donald Trump und auch kein Joe Biden.
Besteht innerhalb der Mitte Partei die Hoffnung, dass Sie nochmals kandidieren?
Es gab solche Fragen im Komitee. Aber da habe ich gesagt: Ich machs nicht mehr. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Die Bürgerinnen und Bürger haben gesagt, dass sie mich nicht mehr wollen, und das akzeptiere ich. Und überhaupt: Aufgewärmtes schmeckt selten gut. Mal abgesehen von Sauerkraut (lacht).