Wenn Schnabelgeissen Aufsehen erregen
In Ottenbach steht die Spräggele an – ein uralter Brauch

Nun rennen sie bald wieder umher, die furchteinflössenden Schnabelgeissen mit ihren furchterregenden Mäulern und grossen Hörnern: Diesen Freitag ist kleine, in einer Woche grosse Spräggele. Der Brauch mit Kindern und Erwachsenen wird in Ottenbach seit über 200 Jahren gepflegt.
Vier Gruppen machen sich ab 18 Uhr bei einem Willkommenstrunk und an einem «geheimen Ort» bereit. Um 19.30 Uhr werden vier Gruppen formiert, die sich in alle Himmelsrichtungen um den Dorfplatz verteilen. Der offizielle Start erfolgt um 20 Uhr mittels knallender Rakete. Dann strömen die Schnabelgeissen mit grossen Hörnern von allen Seiten wieder auf den Dorfplatz, wo im oberen und unteren Bereich «Jagd» aufs Publikum gemacht wird – ein Gaudi, über das auch schon überregionale Medien berichtet haben. Überliefert sind zahlreiche Geschichten aus früheren Jahren, dazu auch mal hartes Zugreifen – bis zum Versenken in einem Bach. «Heute ist das aber nicht mehr so arg. Wir wollen aber diese Tradition am Leben erhalten», sagt Siro Romano, der Patrick Thomi als Obmann abgelöst hat und auf den Spuren seines langjährigen Vorgängers weiterfahren will. Thomi habe den Brauch mit viel Herzblut, Organisationstalent und feinem Gespür für Tradition mitgeprägt, lobt der Turnverein. Nach einem Tief vor etwa 20 Jahren, als nur noch rund ein halbes Dutzend mitmachte, befindet sich der Brauch inzwischen wieder in voller Blüte. «Wir rechnen dieses Jahr mit 30 bis 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Hauptträger sind der Turnverein und der Pontonierfahrverein, aber wir haben in unseren Reihen auch Vertreter des Schützenvereins und Vereinslose. Die Spräggele ist kein Verein», hält Siro Romano fest. Inzwischen sind auch gegen zehn Frauen von der Partie sowie Neuzugezogene, die auf diese Weise Anschluss im Dorf finden. Verbunden mit dem Brauch ist auch der Spräggele-Määrt am 12. Dezember, ebenso ein Publikumsmagnet.
Alle zwei Jahre ein Spräggele-Kurs
Weiterführung und Pflege dieses schweizweit einzigartigen Brauchs sind natürlich auch die Hauptaufgabe des neuen Obmanns. Für Interessierte gab es im November dieses Jahres einen Spräggele-Kurs bei Köfler Holzbau in Zwillikon, wo Neue die Schnabelgeissen Schritt für Schritt und nach Anleitung zusammensetzen und auch individuell gestalten können. Im Baukurs entstanden dieses Mal drei kleine und sechs grosse Viecher, die nun erstmals zum Einsatz kommen. Die Gemeinde unterstützt die Spräggele mit einem Beitrag. Originelle Werbung für die kommenden Auflagen haben die Spräggele-Enthusiasten mit einer «Hausbesetzung» am Dorfplatz 4 gemacht («Anzeiger» vom 31. Oktober).
Auftritt in Tirol?
Ottenbach «exportiert» dieses Brauchtum. So traten die Spräggele-Darsteller auch schon in Baar und Chur auf, nicht jedoch an Fasnachtsveranstaltungen oder -umzügen. Einen ähnlichen Brauch gibt es im Tirol, wo jeweils «Schnappviecher» ihr Unwesen treiben. «Mit dem Obmann dieser 50-köpfigen Gruppe habe ich Kontakt aufgenommen. Wir wollen auch Neues wagen», so Siro Romano.
Ursprünglich spielte eine alte Frau die «Spräggele»
Das Spräggele war bis um 1900 im ganzen Bezirk Affoltern verbreitet. Heute kennt nur noch Ottenbach den Brauch. Die älteste und eingehendste Beschreibung des Brauchs findet sich in einer Handschrift des Kappeler Pfarrers Hans Heinrich Meyer aus dem Jahre 1797.
Bei der «Spräggele» handelte es sich in der Entstehungszeit im späten 18. Jahrhundert um eine alte Frau, die in der «Durchspinn-Nacht» die Kinder kontrollierte, ob sie fleissig arbeiteten. Hintergrund war die damals gerade auch in Ottenbach stark verbreitete Heimarbeit. Um sich das Gebot, am Weihnachtstag nicht zu arbeiten, finanziell leisten zu können, mussten die Familien in der Adventszeit besonders viel arbeiten. In der «Durchspinn-Nacht» wurde vorgearbeitet. Die «Spräggele» sollte als Schreckgestalt die Arbeitsmoral der Kinder hochhalten und ihnen helfen, die Müdigkeit zu bekämpfen.
Die Reformation hatte den Samichlaus-Brauch aus der Zürcher Herrschaft verdrängt, denn Heiligenverehrung wurde bis zur Einführung der Religionsfreiheit im 19. Jahrhundert von der Zürcher Obrigkeit nicht mehr geduldet. Die strafende Rolle des Nikolaus übernahm nun also vor allem in den ärmeren Familien, die sich nicht von landwirtschaftlicher Tätigkeit ernähren konnten, die «Spräggele». Als sich nach der Gründung des Schweizer Bundesstaats der Samichlaus-Brauch auch in den protestantischen Gebieten wieder auszubreiten begann, erhielt die «Spräggele» eine übermächtige Konkurrenz.
Wieso der Brauch gerade in Ottenbach bis heute Bestand hat, ist unklar. Es waren wohl einige wenige Familien, die den Brauch, der sich mit dem Verschwinden der Heimarbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von seiner ursprünglichen Bedeutung gelöst hatte, im 20. Jahrhundert mit viel Herzblut weiterführten. Als der Brauch in den 1980er-Jahren zu verschwinden drohte, wirkte sich vor allem das Engagement des Turn- und des Pontonierfahrvereins entscheidend für das Wiederaufblühen der «Spräggele» aus.
Bernhard Schneider


