Wieder neues Puzzleteil gefunden
Auf dem Gelände des Schweizerischen Nationalmuseums in Affoltern finden archäologische Grabungen statt
Mit Schaufel, Pickel – und gelegentlich auch einem Bagger – graben Archäologinnen und Archäologen derzeit auf dem Grundstück des künftigen Erweiterungsbaus des Schweizerischen Nationalmuseums. An der Grabung ist in erster Linie die Kantonsarchäologie mit zwei bis fünf Mitarbeitenden beteiligt. Unterstützt wird das Team von einem Geoarchäologen der Universität Basel, der hilft, die geologischen Schichtfolgen zu interpretieren.
Schaufel, Pickel und Kelle
Die archäologischen Arbeiten folgen einem klaren Ablauf: Zunächst entfernt ein Bagger die oberen Bodenschichten, danach übernehmen Schaufel, Pickel und Kelle. «Pinsel kommen entgegen der landläufigen Meinung bei uns so gut wie nie zum Einsatz», klärt Daniel Möckli auf. Die grösste Herausforderung stellt derzeit das wechselhafte Herbstwetter dar, das immer wieder für Schlamm und stehendes Wasser sorgt.
Im oberen Bereich des Grabungsfeldes ist knapp unter der Humusschicht viel Kies sichtbar. Überreste der Moräne. Dieses Ablagerungsmaterial blieb beim Rückzug des Reuss-Gletschers nach der letzten Eiszeit, vor rund 12000 Jahren, in Affoltern zurück. Das Gelände fällt dann deutlich ab und endet im unteren Bereich in einer muldenartigen Senke. Kurz nach der Eiszeit muss das örtliche Gefälle hier ausgeprägter gewesen sein. Durch Rodung, Ackerbau und Erosion löste sich Material, das sich über Jahrhunderte an der tiefsten Stelle ansammelte und die Hangneigung allmählich abflachte.
Im Profil lassen sich die verschiedenen Bodenschichten wie in einem Geschichtsbuch ablesen. Ganz unten liegt eine gelbliche Schicht. In diesem sogenannten verwitterten B-Horizont finden sich die zersetzten Überreste der ursprünglichen Moräne. Er ist frei von groben Steinen. Darüber erstreckt sich eine dunkle Erdschicht, durchsetzt mit kleinen Holzkohlestückchen, die von früherer Waldrodung zeugen. Die oberste, leicht rötliche Schicht wird als Hangkolluvium bezeichnet. Es ist Sediment, das über die Jahrhunderte vom Hang abwärts bewegt wurde.
Die lose Steinsammlung im Grabungsfeld wurde in der darunterliegenden Schicht entdeckt. Klar ist: Diese Steine wurden vom Menschen hierhin gebracht. Warum? Das ist die grosse Frage, welcher Daniel Möckli und sein Team derzeit auf den Grund zu versuchen geht. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Aufgabe der Kantonsarchäologie besteht in der Sicherung und Dokumentation von Zeugnissen vergangener Zeiten. Sie wird grundsätzlich nur tätig, wenn solche Funde bedroht sind, etwa durch geplante Überbauungen in einer archäologischen Zone. In solchen Fällen erhält die kantonale Abteilung bei Baugesuchstellung eine entsprechende Mitteilung und ein Gremium entscheidet, ob eine Grabung sinnvoll ist. «Sobald die Bauarbeiten beginnen, sind die archäologischen Funde und Befunde unwiderruflich zerstört», gibt Daniel Möckli zu bedenken. Auf dem Grundstück des Sammlungszentrums wollte man zudem sicherstellen, dass nach Baubeginn keine Überraschungen auftauchen, die den Bau hätten verzögern können.
Die bisher entdeckten Steinkonzentrationen werden sorgfältig dokumentiert, fotografiert und vermessen. «Befunde» – also Strukturen wie Gruben, Mauern oder Feuerstellen – werden direkt vor Ort festgehalten, während Funde wie Keramikscherben oder Metallobjekte ins Labor gelangen.
Früher lebten hier keltische Stämme
Die Affoltemer Befunde und Funde lassen sich mutmasslich auf eine Epoche zurückführen, in der sich in dieser Region grundlegende kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen vollzogen. Die Zeit zwischen 200 vor Christus und 100 nach Christus markiert für das Gebiet der heutigen Schweiz einen Wendepunkt. In der späten Eisenzeit, auch Latènezeit genannt, lebten hier keltische Stämme wie die Helvetier. Sie betrieben Ackerbau, Viehzucht und Handel, wohnten in befestigten Siedlungen und pflegten ein ausgeprägtes Handwerk. Ihre Kontakte reichten bis in den Mittelmeerraum.
Mit der Ausdehnung des Römischen Reichs nach Norden kam es schrittweise zu tiefgreifenden Veränderungen. Um 15 vor Christus übernahmen die Römer die Kontrolle über das Alpenvorland, Verwaltungszentren wie Turicum (Zürich), Vindonissa (Windisch) oder Aventicum (Avenches) entstanden und verbanden die Region durch Strassen, Brücken und Gutshöfe mit dem Rest des Reichs. In der Landwirtschaft setzten sich römische Techniken durch, Münzwirtschaft und Handel gewannen an Bedeutung, und neue Bauformen, Religionen und Bräuche prägten den Alltag.
Dieser Übergang vollzog sich nicht abrupt. Über Generationen hinweg verschmolzen keltische und römische Lebensweisen miteinander. Die Funde aus dieser Zeit liefern deshalb wertvolle Einblicke in eine faszinierende Phase des kulturellen Austauschs, in der Altes und Neues nebeneinander existierte.
Für Archäologen wie Daniel Möckli gehört es zum Alltag, dass ihre Arbeit oft nur einzelne Puzzleteile eines weitaus grösseren Bildes zutage fördert. Ihr Beruf ist geprägt von unzähligen Fragen und der geduldigen Suche nach möglichen Antworten. Viele der Fragen bleiben offen. Oder klären sich erst viel später, sobald neue Funde ans Licht kommen und dadurch Zusammenhänge sichtbar werden.
Stück lebendige Geschichte
Was genau die aktuellen Grabungen zum Vorschein bringen werden, bleibt weiter spannend. Schon jetzt zeigt sich aber: Der Baugrund des künftigen Erweiterungsbaus des Sammlungszentrums des Schweizerischen Nationalmuseums wird nicht nur ein Ort zur Aufbewahrung von Kulturgütern, sondern ist selbst ein Stück lebendige Geschichte.
Was passiert nach der Grabung?
Nach Abschluss der Grabung werden sämtliche Daten archiviert und der Forschung zugänglich gemacht. Ein Grabungsbericht fasst die Ergebnisse zusammen. Ob später eine vertiefte wissenschaftliche Auswertung erfolgt, hängt von der Bedeutung des Fundortes und den verfügbaren Ressourcen ab. Publikationen erscheinen meist in Fachzeitschriften, Sammelbänden oder gelegentlich als eigenständige Bücher.
Für die breite Öffentlichkeit sind die Objekte über die Kantonsarchäologie oder als Leihgaben in Museen zugänglich. Manchmal werden besonders anschauliche oder umfangreiche Ausgrabungen im Rahmen eines «Tags der offenen Grabung» präsentiert – hier wird das aber voraussichtlich nicht der Fall sein. Es sei denn, der Boden in Affoltern hält noch ein spektakuläres Geheimnis bereit.
Da die Bauarbeiten bereits im nächsten Jahr starten, bleiben die Grabungsflächen in diesem Fall offen, und die historischen Befunde verbleiben im Boden. Sie werden demnach nach Baubeginn unwiderruflich verloren sein. Umso wichtiger ist die sorgfältige Dokumentation im Vorfeld. (cla)