Wo Kinder und Jugendliche vorübergehend Elternersatz finden
Im Wohnheim Paradies in Mettmenstetten werden Kinder und Jugendliche im Alter von 3 bis 18 Jahren betreut. Nun feiert die Institution der Heilsarmee ihr 100-Jahre-Jubiläum.
Auf der Rückseite des markanten Gebäudes liegt der bewaldete Homberg. Die Südseite gibt den Blick frei auf Mettmenstetten, den Zugersee und auf die Alpen – ein herrliches Panorama und eine Idylle, die mit Spielplätzen, Geräten, Landschildkröten und Zwerggeissen komplettiert wird. «Ja, wir haben eine super Infrastruktur», sagt Jonathan Schoch, seit 1. August 2022 Institutionsleiter und Rückkehrer: Von 1999 bis 2005 war er in der Gruppenleitung im «Paradies» tätig. Ein solches Umfeld bietet den idealen Rahmen für Kinder und Jugendliche, die in einem herausfordernden familiären Umfeld aufwachsen – das ist der hauptsächliche Grund, weshalb sie ins «Paradies» kommen. Es sind in der Regel normalbegabte Kinder und Jugendliche, die freiwillig und weniger freiwillig platziert werden. Sie werden zu 90 Prozent durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) eingewiesen.
Manchmal sind es auch Kinder mit Entwicklungsrückständen, bei denen der schulpsychologische Dienst ins Spiel kommt. In aller Regel besuchen sie die Volksschule in Mettmenstetten. Oder sie erhalten einen Schulplatz in einer privaten Sonderschule. Im Paradies finden sie dann die Voraussetzung für ein «normales» Heranwachsen, ausserhalb des herausfordernden Umfelds der eigenen Familie. «In diesem Prozess nehmen wir die Rolle einer Bezugsperson ein», sagt Jonathan Schoch. Die Kinder und Jugendlichen, die aktuell in drei Gruppen mit insgesamt 24 Plätzen, während 365 Tagen im Jahr betreut werden, bleiben im «Paradies», so lange es nötig ist. Wenn jemand nach der obligatorischen Schule eine Anschlusslösung, Schule oder Berufslehre im Bezirk findet und im Wohnheim Paradies bleiben möchte, kann er eines der Studios beziehen. Im «Paradies» geht es darum, den Kindern und Jugendlichen eine sichere und fördernde Umgebung zu bieten und sie in ihrer psychosozialen Entwicklung zu unterstützen.
Sieben Werte
Jedes Kind und jeder Jugendliche hat eine Bezugsperson. «Mit dem Helfernetz werden an regelmässigen Standortbestimmungen die Entwicklungsziele der Kinder und Jugendlichen mit den Bezugspersonen überprüft», erklärt Jonathan Schoch, der in diesem Zusammenhang auch jene sieben Werte erwähnt, die für das «Paradies» als Richtschnur gelten: Würde, Hoffnung, Versöhnung, Nächstenliebe, Verantwortung, Freiheit und Gerechtigkeit. Das «Paradies» ist eine Institution der Heilsarmee, die Haltung christlich geprägt, aber Aufnahme finden Kinder und Jugendliche aller Religionen. «Mit dieser christlichen Haltung müssen sich unsere Mitarbeitenden identifizieren, müssen aber im Gegensatz zu früheren Zeiten nicht mehr Mitglied der Heilsarmee sein», so der Institutionsleiter. Für Betreuung stehen ihm 2000 Stellenprozente zur Verfügung: Mitarbeitende, die offenbar einen guten Job machen. «Wir haben eine hohe Erfolgsquote. Kinder und Jugendliche können nach dem Aufenthalt bei uns grossmehrheitlich ins familiäre Umfeld zurückkehren», sagt Jonathan Schoch. Er spricht aber auch von Situationen, in denen es nicht mehr geht und ein Schulinternat als Anschlusslösung folgt.
Reger Austausch
Das «Paradies» stösst im Knonauer Amt auf grosse Akzeptanz. Das zeigen unter anderem die regelmässigen Spenden, die der Institution zufliessen – auch in Materialform. Die Institution ist gut vernetzt, pflegt die Kontakte zu den Mettmenstetter Behörden oder zum Rotary-Club und ist im Austausch mit anderen Institutionen, etwa mit dem WWW in Rossau, der Pestalozzi-Stiftung in Knonau, dem Albisbrunn, mit sonderpädagogischen Schulen. Das «Paradies» ist auch in einschlägigen Verbänden und kantonalen Organisationen dabei. Übergeordnete Trägerin des «Paradies’» ist das AJB (Amt für Jugend und Berufsberatung) des Kantons Zürich, mit dem auch eine Tarifvereinbarung besteht.
Schwerpunkt Traumapädagogik
Künftig setzt Jonathan Schoch einen Schwerpunkt bei der Traumapädagogik und beschäftigt dazu eine Fachfrau mit entsprechender Ausbildung. Im Wissen, dass jedes Kind/ jede Jugendliche im familiären Umfeld auch durch traumatische Erlebnisse beeinträchtigt wurde. «Wir bieten hier einen sicheren, geschützten Ort mit verbindlichen Bezugspersonen. So gilt es, den Hintergrund des Kindes auszuleuchten und psychologisch geschultes Personal einzubeziehen. Zudem ist das ein idealer Ort, um zur Ruhe zu kommen», hält der Institutionsleiter fest.
Die Rekrutierung von Mitarbeitenden und die Komplexität der Problematik bei Jugendlichen zählt er zu den aktuell grösseren Herausforderungen, auch wenn sich derzeit im «Paradies» keine Suchtprobleme stellen und genügend infrastruktureller Raum vorhanden ist.
Vom Weinhändler an die Heilsarmee
Das weitherum sichtbare, markante Gebäude am Homberg, auf 600 Meter Höhe, über dem Dorf Mettmenstetten, wurde in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts als Filiale der Kneipp-Kurhäuser «Lilienberg» und «Arche» in Affoltern erbaut. Erster Besitzer und Gastwirt war der aus Zürich stammende Robert Markstaller-Schmid. Der Ruf des «Paradis» als Erholungsort war in der Folge so gut, dass kurz vor der Jahrhundertwende die Zürcher Gesundheitsbehörden erwogen, im Haus auf dem Homberg das geplante «Kantonale Lungensanatorium» einzurichten. Die etwas höhere Lage und die etwa 48 Stunden mehr Sonnenschein pro Jahr, die zu erwarten seien, gaben dann jedoch den Ausschlag, dass die Gemeinde Wald im Zürcher Oberland zum Zuge kam. Markstaller leitete den Kurbetrieb bis etwa 1910, seine beiden Nachfolger mussten ihre Versuche aus finanziellen Gründen nach kurzer Zeit aufgeben; der Kurbetrieb florierte offenbar nicht mehr.
Nach kurzer Stilllegung übernahm 1912 der Zürcher Weinhändler Emil Landolt (der Vater des legendären Stapi von Zürich) die Gebäude und betrieb dort in der Folge eine Weinhandlung mit Restaurant. 1923 ging die Liegenschaft an die Heilsarmee über, die nach einigen baulichen Veränderungen ein Heim für damals 75 Kinder einrichtete.
Im Laufe der Zeit wurden die Gebäude den heutigen Bedürfnissen angepasst. Während der Umbauarbeiten in den Jahren 1976/77 entstanden drei abgeschlossene, komplette Gruppenwohnungen, ein zusätzliches Treppenhaus und diverse Nebenräume im Untergeschoss. Die baulichen Veränderungen fanden mit der gelungenen Aussenrenovation 1987 vorerst ihren Abschluss.
Der Neubau mit der ehemaligen Heimleiterwohnung und zwei Studios wurde im Jahr 2001 gebaut und mit dem bisherigen Haus verbunden.
Wie das Wohnheim Paradies zu seinem Namen kam
Das Wohnheim Paradies ist nach dem Flurnamen «Paradis» benannt, der sich ohne «ie» schreibt. Vermutlich hängt die Bezeichnung mit der Präsenz französischer Truppen und Funktionäre in der Zeit der Helvetik im Distrikt Mettmenstetten (1798–1803) zusammen. Der «paradiesische» Aussichtspunkt am Homberg gefiel offenbar der französischen Distriktsverwaltung so gut, dass sie diesen nach ihrem Sprachgebrauch mit «Paradis» benannte. (-ter.)